ERWIN DAMIAN

Sewastopol im Mai 1944 *

»Eins von beiden: entweder der Krieg ein Wahnsinn, oder wenn die Menschen diesen Wahnsinn begehen, sind sie alles andere als vernünftige Geschöpfe, obwohl wir sie aus irgendeinem Grunde dafür halten.«

Tolstoi: »Sewastopol im Mai 1855«

 

Chersonnes, 28. April 1944

Die beiden Russinnen aus dem Feldlazarett Feodosia assistieren bei den Operationen mit unveränderter Sorgfalt und einer Ruhe, als habe sich seit vierzehn Tagen nichts verändert. So sehr die Nächte uns zermürben, am Morgen sieht doch alles wieder hoffnungsvoll aus. Die grauen Steine spiegeln sich im Wasser der Buchten, Wolkenschatten gleiten über die braunen Steppenhügel, die Rauchfahnen am Horizont könnten, vom Morgenlicht erfaßt, ebenso gut Nebelschleier sein. Kap Fiolent meldet Zerstörungen und Verluste. Ich sprach mit Oberleutnant Sch. und Fähnrich M. Sie untersuchen in den alarmfreien Stunden die Grundmauern des Georgijewskijklosters, wo die Überlieferung Reste eines alten Artemis Tempels vermutet. Oberleutnant Sch. möchte wissen, wann ich meinen Besuch mache ich müsse mich beeilen, wenn ich nicht alles zerschossen vorfinden wolle. Soeben landet hinter unserem Bunker eine Ju 52, die Verwundete aus den Stellungen und »schwere Fälle« vorn Hauptverbandsplatz mitnehmen soll. Es ist die dritte Maschine, die heute landen konnte.

Chersonnes, 29. April 1944

Gegen vier Uhr löschen die Scheinwerfer ihre Lampen. Zahlreiche Brände verblassen im Nebel, der aus den Buchten aufsteigt und über die Geröllhalden kriecht. Wie auf einer ins Entwicklerbad getauchten photographischen Platte tauchen die Umrisse von Mamaschaj und Kap Fiolent auf. Ich bin zum Umfallen müde. Wieder haben wir eine Nacht geschossen, gefroren, geraucht, geschwiegen, und gleich geht es weiter. Leutnant D. hegt über dem Meßtisch und rechnet. Die Brille hängt ihm auf der Nasenspitze und verleiht seinem Gesicht etwas Spitzweghaftes. Er legt das Lineal an und flüstert vor sich hin: Planquadrat sieben, Planquadrat acht, Dreizehnfünf, Dreizehnsechs - tödliche Beschwörungsformeln, wie im Traum gesprochen. Nur der Schatten, der sich über die Augen legt, wenn er eine feindliche Stellung im Fadenkreuz der Meßgeräte festhält, verspricht nichts Gutes, und wenn er >fertig< sagt, zuckt es böse in ihnen auf. Er schaut zum Chef hinüber, der die Hand hebt und >Feuer< ins Mikrophon schreit. Dann donnern die Salven über unsere Köpfe weg, der Vorposten auf >Hammelrippe< gibt die Korrekturen durch, D. beginnt von neuem zu rechnen. Inzwischen kommt die >Antwort< von drüben, ein schnell absinkender Heulten, dann je nach der Entfernung des Einschlags ein Schmettern, als wenn ein Blitz einschlägt, darauf ein aufstöhnendes Grollen, wenn etwas getroffen ist, oder auch ein übermütiges Zwitschern wie ein Konzert künstlicher Vögel auf dem Jahrmarkt, wenn die Splitter scharf durcheinander fliegen oder gegen die Betonwände regnen. Ich beobachte indessen im Winkel des Sehschlitzes eine Spinne, die mit ihren eingewickelten Fliegenleichen lautlos in ihrem Netz hängt und die Fäden flickt. Sind nicht auch wir mit unseren Gegnern in ein Verhängnis verstrickt, das niemand mehr überschaut? Sind nicht für unser Ende die Fäden schon geknüpft? Leutnant G. von der Batterie Iwan Baba ist gestern am Englischen Friedhof, der Gedenkstätte der im Krimkrieg 1854/56 gefallenen Engländer, ums Leben gekommen. Oberleutnant S. kam mit zerschossenen Händen aus dem vordersten Graben, nachdem er verbunden war, schickte ihn Oberst W., der Kampfkommandant dieses Abschnitts, wieder nach vorne. Andere dagegen sollen, wie unser Kommandeur, die Halbinsel inzwischen verlassen haben. Wir frösteln in unseren Schaffellmänteln Auf den Meßtisch fällt das erste Morgenlicht, Leutnant D. löscht die Kerzen. Die Konturen der Buchten, die Küstenlinien, die Klippen, die Rundungen der Steppenhügel nehmen Farbe an: zartes Blau, verschwimmendes Weiß, blasses Grün. Vor der Kassatscha-Bucht liegt noch Nebel, aus dem der Batteriebunker wie eine künstliche Insel herausragt. Langsam dämmert der Weg auf, der zum Wasser und zu den Baracken hinabführt. Aus den Grasnarben zwischen den Steinen leuchten gelbe Schwertlilien vor einem Berg von abgewrackten Lastkraftwagen und allerlei Abfall. Am Wasser die stinkenden Kadaver toter Pferde. Wo sich der Nebel auflöst, werden schwarz wuchernde Brandnarben sichtbar. Augenblicksweise sind die weißen Häuser von Sewastopol in den Lücken ziehender Rauchschwaden zu erkennen. Malvenfarbene Lichtbänder ziehen über die moosgrünen Mulden und bringen ein wenig Wärme mit. Leutnant D. packt seine Geräte zusammen, der Chef übernimmt die Morgenwache, ich beginne meinen Rundgang durch die Stellungen.

Vor dem Bunker blendet die Morgensonne. Stille am Wasser, auf dem Flugplatz aber, hinter den fischgrätenähnlichenen Resten abgeschossener Flugzeuge, ist Bewegung. Zwischen den Bombentrichtern einzelne Gruppen unterwegs zum Leuchtturm und den Landeplätzen, um die angekündigten Schiffe und Fähren zu erwarten, es gibt wohl niemand mehr, der das Tun und Treiben der versprengten Soldaten in diesem Gelände kontrolliert. Am Leuchtturm finde ich den Posten damit beschäftigt, drei Gräber auszuheben. Er schaut mich aus verdüsterten Augen an, legt die Schaufel weg, wir besteigen über eine Wendeltreppe den Turm. Im Rundblick die gesamte Halbinsel bis zum Kap im Nordwesten und zu den Felsen von Maxim Gorki im Süden, wo sich das stärkste Küstenfort der Festung Sewastopol befand- während des Kampfes Hauptverbandsplatz und letzter Stützpunkt unserer militärischen Führung. Der nördliche Rand der Halbinsel schiebt sich keilförmig mit einer leicht gekrümmten Spitze ins Meer hinaus. Das Rauschen der Brandung vom Blockstrand herauf vermischt sich mit dem Rasseln der Geräte im Innern des Turms. Auf dem Wasser kein Segel, keine Rauchwolke, der Turmposten meint, die Fähren könnten in wenigen Tagen eintreffen, doch mir kommt alles sagenhaft vor. Er zeigt nach Süden. Ich sehe, daß es an den Uferhängen von grüngrauen Uniformen wimmelt, die dort hoffen, in Sicherheit gebracht zu werden.

Kap Fiolent, 2. Mai 1944

Soeben kehrte ich in Begleitung des Fähnrichs M. von den Felsen zurück, von denen man landeinwärts die baumlose Hochfläche und seewärts den Steilrand der Küste bis zur Einfahrt in die »Bucht der Lästrygonen« überschauen kann. In den Mittagsstunden war ich allein im Gelände des Georgiewskijklosters - das Kloster scheint tatsächlich auf antiken Mauerresten zu ruhen, aus denen sich natürlich das Ganze eines Tempels nur schwer rekonstruieren läßt. Sehr viel zwingender, ja auf eine geheimnisvolle Weise evident scheint mir der Ort selbst zu sein, es bedarf keiner großen Phantasie, sich unter dem hohen Himmel vor den grauroten Felsen jenen griechischen Tempel vorzustellen, in welchem der Mythos die Menschheitsparabel von der Begegnung des schuldbeladenen Bruders mit der entsühnenden Liebe der Schwester stattfinden läßt. Auch heute liegt der Ort auf der verletzbaren Grenzlinie zwischen Menschenwürde und Barbarei. Nicht ungefährlich, das vielsagende Schweigen des nach Wermut und Kamille duftenden Tempelbezirks zu stören, seit Tagen liegt er im Feuerbereich der auf den Höhen von Balaklava aufgestellten russischen Batterien. Eine besonders flinke Art lehmbrauner Nattern huscht in der Mittagswärme über das helle, heiße Gestein. Freilich ist weder von einem »dichtbelaubten Hain« noch von den »Schatten reger Wipfel« etwas zu sehen. Man glaubt das entfernte Dröhnen der Brandung zu hören, aber es sind dann doch andere Geräusche, ein dem reinen, blauen Himmel befremdliches Grollen von den russischen Stellungen her, oder ein Flugzeug zieht in großer Höhe seine Bahn. Wie seltsam in solchen Augenblicken die vergegenwärtigende Kraft der Sprache, die in den zerschossenen Mauern des Klosters den alten Versen zur vollen Wirkung verhilft: »Und außen stehend sah ich, wie des Hauses Sims einfiel und alle Decken, ringsher eingestürzt, aus hohen Pfeilern auf den Grund hinschmetterten. Nur eine Säule blieb zurück vom Vaterhaus, und blondes Haupthaar floß hinab vom Knauf der Säule, die mit Menschenstimme sprach. Und ich, gedenkend meines menschenmordenden Geschäfts, begoß die Säule, wie zum Tod bestimmt, und weinte laut. «

Oberleutnant Sch. meinte, daß sich Fiolent noch eine Woche halten könne, wenn sich die nächtlichen Zerstörungen und Verluste in den bisherigen Grenzen hielten. Was nicht anzunehmen ist. Sie werden von Nacht zu Nacht empfindlicher, mit Hilfe oder gar mit Ersatz für das Verlorene ist nicht zu rechnen. Auf keinen Fall wollen er und Fähnrich M. die Stellung aufgeben, solange in der Stadt Sewastopol und am Englischen Friedhof noch gekämpft wird. Ich vermute, daß sie von ihrer archäologischen Leidenschaft hier festgehalten werden. Sch. erklärte mir von der Gipfelplattform des Hauptfelsens aus in der Abenddämmerung seine Theorie von der Landung des Freundespaares Orest und Pylades, ich verstand, daß es ihm viel bedeutete, den Fakten eines Mythos so nahe wie möglich zu sein. Topographisch gibt es tatsächlich außer der Hafeneinfahrt von Balaklava, die unter russischem Feuer liegt, nur diese Stelle, an der eine unbeobachtete Landung möglich wäre; und da sich die Örtlichkeit seit fünftausend Jahren nicht verändert hat, die Stelle aber sicher dem Mythenerzähler bekannt war, müßte man schon den Mythos selbst leugnen, wollte man die Topik dieses Ortes anzweifeln. Nachdem ich mich abends von der Beendigung der Arbeit am Scheinwerfer überzeugt hatte, setzten wir uns vor die südliche Öffnung unseres Bunkers, und Fähnrich M. las uns sein noch in Feodosia verfaßtes Fragment »Iphigeniens Traum« vor. Bis uns nach Mitternacht der Alarm an die Geräte rief.

 Kap Fiolent, 3. Mai 1944, früh morgens

Von den Felsen aus beobachteten wir das Flakfeuer, zogen uns dann unter die Betondecke zurück, als das Bombardement einsetzte. Pausenlos griffen Schlachtflieger von der Seeseite aus an. Die beiden Außenstellungen sind fast vollkommen zerstört, wir haben zwei Tote und sechs Verwundete zu beklagen, Soeben dämmert es, die Luft ist noch von Brandgeruch erfüllt, unsere Männer sind damit beschäftigt, dem einzigen Sanitäter beim Anlegen der Verbände zu helfen. Wenn es heller ist, werde ich mit Fähnrich M. die beiden Gefallenen begraben.

Chersonnes, 4. Mai 1944

Seit gestern wird das Mittagessen im Leitstandsbunker ausgegeben, weil das >Kasino< als Notlazarett eingerichtet ist. Da nur noch zwei Maschinen täglich auf dem Flugplatz abgefertigt werden, stauen sich die Verwundetentransporte vor den Aufnahmestellen von Maxim Gorki II und hier bei uns. Nach der durchwachten Nacht sitzen wir dicht zusammengedrängt an schmalen Tischen zwischen den Kojen. Kälte strömt durch den offenen Türrahmen, die Tür ist durch den Druck einer Luftmine herausgerissen. Zum Frühstück für jeden nur zwei Tassen Tee, weil das Frischwasser knapp geworden ist, die Quelle, die uns bisher versorgte, liegt seit vorgestern unter Artilleriebeschuß. Während unserer einsilbigen Unterhaltung treten zwei Männer in den niedrigen Raum, in lehmverschmutzten Uniformen und blutgetränkte Binden um den Kopf, sie sind so außer Atem, daß es eine Weile dauert, bis sie reden können, in unzusammenhängenden Sätzen. Sie kommen aus Sewastopol, von wo man sie zu Fuß nach Maxim Gorki II in Marsch gesetzt hat, haben aber den Weg an den Buchten entlang verfehlt und sind so bei uns gelandet. Vor der Karbidlampe schimmern ihre ausgebluteten Gesichter kreideweiß. Wir entnehmen ihren Worten, daß die Stellungen im Belbektal geräumt sind und in Sewastopol nur noch im Hafengelände gekämpft wird, bis die letzten Boote mit Rückzüglem aus Mamaschaj entladen sind. Wer von den Verwundeten noch laufen konnte, wurde zum Hauptverbandsplatz geschickt, die andern habe man im Arsenal zurückgelassen, aber das seien nicht viele. Die Reste unserer Verteidigungskräfte in den nördlichen Stadtteilen seien entweder tot oder in Gefangenschaft. Ich kann nur vermuten, daß Sewastopol in den nächsten Tagen fallen wird, dann sind auch die Tage für Oberleutnant Sch. und Fähnrich M. auf Kap Fiolent gezählt. Ich versuchte, mit unserem Vorposten auf »Hammelrippe« zu telefonieren, um etwas über die Lage am Englischen Friedhof zu erfahren, aber er meldet sich nicht. Auf den Höhen von Mamaschaj ist es still geworden, über dem Belbektal steigt eine schwarze Rauchwolke auf.

Chersonnes, 5. Mai 1944

Die nördliche Flankenstellung ist zerschlagen. jetzt gibt es nur noch eine Südflanke, Kap Fiolent und eine schwache Mitte am Englischen Friedhof, dann kommen wir an die Reihe. Auf meinem Rundgang sehe ich nur fragende Gesichter. Der Leuchtturmposten ist mit dem Ausschaufeln neuer Gräber beschäftigt, jeden Morgen werden ihm aus dem Notlazarett ein paar Tote zugeliefert, er meint, bald würden ihm die Bomben das Aufwühlen abnehmen. Bei meiner Rückkehr in den Mittagsstunden melden Vortrupps, die zerlumpt und abgekämpft unsere Stellungen erreichen, daß die Festung Sewastopol gefallen sei. Versprengte Reste eigener Truppen, vermischt mit rumänischen, kaukasischen und tatarischen Verbänden hätten die brennende Stadt verlassen und streben nun Chersonnes oder Maxim Gorki II zu. Ungeordnete Haufen von grauen, ockergelben und olivgrünen Uniformen verströmen wie eine von Todesangst ergriffene Herde über die Geröllhügel, Deckung suchend, wenn eine Granate einschlug, im übrigen kopflos und rücksichtslos, jeder besessen von dem Gedanken, nicht als Letzter zur Stelle zu sein, wenn die Fähren anlegten. Da es keine Anzeichen für eine schnelle Räumung unserer Landzunge gibt, will ich mich vergewissern, ob meine Stellungen noch besetzt sind. Am ersten Geschütz, einer Achtzentimeter-Flak-Kanone, noch drei Mann, an der Dreisieben niemand mehr, der Verschluß entfernt, die Unterkünfte geräumt. Wie gern hätte ich den Dreien das erlösende Wort gesagt, aber wir haben Befehl, uns von diesem Teil der Bucht erst abzusetzen, wenn die Männer vom Englischen Friedhof zurück sind. Da wir die Absetzbewegungen der Truppentransportschiffe und Fähren zu decken haben, gibt es für uns noch keinen Feierabend.

Chersonnes, 6. Mai 1944

Wie lange wird mir noch Zeit bleiben, meine Eindrücke aufzuschreiben? Immerhin hilft es ein wenig, die schlaflose Zeit der Wache zu überbrücken. Tagsüber sind wir jetzt hauptsächlich mit Verwundetentransporten beschäftigt. War heute zweimal auf dem Hauptverbandsplatz in den Felsgewölben von Maxim Gorki II, müßte mich aber stundenlang hinsetzen, wollte ich das Grauen schildern, das dort herrscht. Verwundete neben Sterbenden und Tote dicht gedrängt in den engen Stollen, vor den Nischen der Operationsräume, die von Schreien erfüllt sind. An dem unverputzten Mauerwerk vermischt sich die armselige Hinterlassenschaft der Toten mit dem Spülicht und Kehricht von Wochen und den Blut-, Schweiß- und Uringerüchen der noch Lebenden. Wünsche, Gebete, Flüche dringen aus den Lagern aus Lumpen. Es ist jedes mal wie ein Gang durch die Unterwelt, wenn man mit einer Tragbahre hindurch muß. Es fehlen Ärzte, Sanitäter, Instrumente und Medikamente, die man auf dem Rückzug kistenweise in den Depots der Intendanturen vernichtet hat. Alles, was dem Soldatenleben in Friedenszeiten den Anschein von Rechtschaffenheit verleiht, ist inhaltslos, da Zerstörung und Verfall eine untere Grenze erreicht haben. Die Halbinsel ist bis auf diesen letzten Zipfel geräumt, wenn Fiolent schweigt, werden die vier Geschütze unserer Batterie ebenfalls bald verstummen. Was wird dann mit den Verwundeten? Wer von den Tausenden, die bei den Anlegestellen auf die Fähre warten, wird das rettende Ufer erreichen? Wie lange werden die beiden Flugzeuge, die zwischen der Halbinsel und dem Festland hin- und herfliegen, noch landen und starten können? Den Absetzbefehl und damit den Befehl zur Sprengung der Batterie kann nur der Admiral geben. Der sitzt, wie ich höre, in einem der Stollen von Maxim Gorki II, ein Schnellboot liegt bereit, um ihn rasch nach Konstanza zu bringen, wenn es hier zu Ende geht.

Chersonnes, 7. Mai 1944

Volltreffer in zwei Flakstellungen, im Eingangsstollen Panik unter den dort versammelten rumänischen Soldaten, sie drängen immer weiter ins Innere und behindern unsere Arbeit. Nach dem Angriff mache ich mich auf den Weg zu den Stellungen. Von den Baracken ist nur noch ein Holzhaufen übrig. Kaum zu ertragen der Anblick der Toten, besonders die erstarrten Gebärden ihres letzten Augenblicks, die weit geöffneten Augen, die schwarzen Lippen. In der Stellung am Hochufer der Bucht warten die Verwundeten, notdürftig in ihre Decken gehüllt, auf ärztliche Hilfe, einige stöhnen, andere fluchen. Beim Lazarettbunker treffe ich die beiden Feldgeistlichen, die den Sterbenden beistehen, indem sie bei den Operationen assistieren. Die Leichenträger und Totengräber lassen sich nach ihrem schlimmen Dienst in irgendeine Ecke fallen und machen von dem Alkoholvorrat vollen Gebrauch. Leute, die sonst ihre Pflicht taten, starren gleichgültig ins Leere.

Chersonnes, 8. Mai 1944

Ich habe vorgeschlagen, wegen der häufigen Alarme die Geräte nachts nur mit einer Bedienungsmannschaft zu besetzen und den Rest der Leute im Bunker unterzubringen, aber sie wollen lieber beisammen bleiben, im Freien. Einige scheinen diesen Streifen Land am Wasser wie eine Art Eigentum zu betrachten, das sie aus ganz persönlichen Gründen zu verteidigen hätten. Sie hegen, ja schmücken das bißchen Erde, als ginge es um ihr kleines Schrebergartenglück. Heute morgen sah ich die beiden russischen Krankenschwestern auf einer Decke vor dein Trümmerberg der Baracken, sie schauten über die Kruglajabucht nach Osten. Was mag in ihnen vorgehen? Ihre Landsleute sitzen keine fünf Kilometer weit in ihren Gräben, sie aber helfen den verhaßten Eindringlingen. Wie man hört, sind sie entschlossen, mit einem Verwundetentransport auf einer Fähre nach Konstanza überzusetzen.

Eforia, 20. Mai 1944, im Militärhospital

Neun Tage sind seit unserer letzten Nacht auf der Tauris vergangen, und ich kann ebensogut sagen, daß ich noch lebe wie daß ich wieder lebe. Ich versuche, die Ereignisse jener letzten Nacht auf Chersonnes aufzuschreiben, als ich viermal den Weg zwischen unserer Batterie und Maxim Gorki II zurücklegte, um den Absetz- und Sprengbefehl zu erhalten. In der Nacht vom neunten zum zehnten Mai war am Englischen Friedhof die Entscheidung gefallen. Bis zwei Uhr früh hatten wir noch Verbindung mit dem Hauptgefechtsstand, die Meldungen klangen wie letzte Hilferufe von einem sinkenden Schiff. Kurz vor Mitternacht war Oberleutnant S. gefallen, nachdem er, bereits in den Abendstunden verwundet, notdürftig verbunden wieder nach vorne gegangen war. Gegen ein Uhr fiel Oberleutnant D., der ehemalige Batteriechef von Iwan Baba. Bis zur Lösung vom Gegner, die nach den Berichten der Rückkehrer gegen vier Uhr früh erfolgte, verlor die Abteilung noch über dreißig Mann. Als es im Morgengrauen stiller wurde, konnten sich die restlichen Haufen durch das aufgewühlte Gelände in den Schutz unserer Batterie retten. Unser Lazarettbunker füllte sich weiter mit grausam zerschundenen Gestalten. Ein junger Bursche, den die beiden Feldgeistlichen hereintrugen, war nur noch ein stöhnendes Bündel, das Gesicht mit fingerlangen Glassplittern gespickt, die Augen weit geöffnet, stumm erschrocken über das Ausmaß an Schmerzen, das ihm zugeteilt war. Die beiden Geistlichen hielten seine Hände, bis er starb. In dieser Nacht wurde auch Fähnrich M. schwer verwundet, ein armlanger Bombensplitter hatte ihm den Oberschenkel durchschlagen, Oberleutnant Sch. sorgte dafür, daß er eine Morphiumspritze bekam. Als ich ihn verließ, war er noch bei Bewußtsein. Da er den Kopf nicht drehen konnte, fragte er mich, wer neben ihm hege. Es war ein kleines, hageres Kerlchen, dem beide Beine amputiert waren. Als ich es ihm sagte, wurde sein Blick ernst und ergeben. Sein Nachbar zur anderen Seite, schwarz von geronnenem Blut über den Augen, fragte immerzu: »Warum ist es so dunkel?« Ein Sanitäter sagte: »Frag nicht soviel! Warum willst du das wissen? Du hast eins abgekriegt- deshalb.« Zu mir sagte er: »Kopfschuß. Notverband. Mit dem nächsten Transport muß er weg.« Mir war nicht klar, welchen nächsten Transport er meinte. Fähnrich M. reichte mir die Hand und schloß die Augen. Am Abend brachte Oberleutnant Sch. die Nachricht, daß unser Freund um die Mittagszeit gestorben war. Als die Wirkung der Morphiumspritze nachließ, sei er aufgewacht und habe ihm aus seinem Marschgepäck ein Bündel Papiere und sein Soldbuch überreicht. Sch. bat mich, die kleine Hinterlassenschaft an seine Angehörigen nach Königsberg zu schicken. Da sich die Ereignisse seitdem überstürzten, kann ich es erst von hier besorgen. Und da die Blätter nicht versiegelt sind, bleibt mir genügend Zeit, die Bruchstücke »Iphigeniens Traum« und »Mein Freund Orest« noch einmal durchzulesen. Auch das kleine Säckchen, das mir Oberleutnant Sch. in Verwahrung gab, kann ich erst jetzt öffnen. Es enthält antike Scherben, die er bei seinen mit Fähnrich M. unternommenen Grabungsversuchen in den Grundmauern des Georgijewskijklosters gefunden hat, Bruchstücke eines Gefäßes mit überaus fein gezeichneten Blattornamenten sowie Brust und Hüfte einer weiblichen Figur, die M. als >taurische Artemis< oder >die große Jägerin< bezeichnet haben soll. Mir scheint es, als erinnerten mich die angedeuteten Linien an gewisse Bewegungen der Tänzerinnen von Karassubasar.

Als wir von der Beerdigung unseres Freundes M. am Leuchtturm zurückkehrten, nahm mich der Batteriechef in der Dunkelheit beiseite: ob ich Lust hätte, nach Maxim Gorki zu fahren und den Admiral um den Absetzbefehl zu bitten. Lust? Ich muß ein ziemlich überraschtes Gesicht gemacht haben, denn er sagte lächelnd: »Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen den Befehl.« Er gab mir einen ziemlich lädierten, aber noch fahrtüchtigen Kübelwagen und einen Obermaat als Fahrer mit. Zeitweise war das Gelände von Leuchtschirmen taghell erleuchtet. Wir fanden den Admiral in einem engen Raum am Ende eines Labyrinths unterirdischer Gänge mit drei Herren seines Stabes. Da wir uns von Feodosia her kannten, bedurfte es keiner besonderen Formalitäten, ich schilderte ihm unsere Lage, aber die kohlschwarzen Augen in dem gelblichen, von mannigfachen Anstrengungen gezeichneten Gesicht nahmen einen Ausdruck unnachgiebiger Härte an, er schlug mein Ersuchen um den Sprengbefehl rundweg ab. Gegen zwei Uhr nachts, in einer Feuerpause, unternahm ich den zweiten Versuch, wieder vergebens. Beim dritten Mal wurde die Ölwanne unseres Kübelwagens leck geschossen, so daß wir den Weg zu Fuß fortsetzen mußten und erst gegen fünf Uhr früh den Stollen erreichten. Der Admiral wurde geweckt, er bot mir eine Zigarette und einen Schluck Kaffee an, bedauerte unser aller Schicksal, erinnerte an die schönen Tage von Feodosia, hatte aber vom Festungskommandanten noch keine Anweisung, unsere Batterie freizugeben. In der Morgendämmerung, als das feindliche Artilleriefeuer, durch Bodennebel behindert, ein wenig nachgelassen hatte, machte ich mich ein viertes Mal auf den Weg, und diesmal glückte es. Auf dem Rückweg kam ich im Hohlweg zwischen zerschossenen Fahrzeugen an einer Gruppe von Männern vorbei, die, in ihre Decken gehüllt, den harten, von Kratzgeräuschen unterbrochenen Tanzrhythmen eines Grammophons lauschten, sie schienen ihre verzweifelte Lage völlig vergessen zu haben. Am liebsten hätte ich mich neben sie geworfen, um es ihnen gleich zu tun.

Bei meiner Rückkehr war schon alles vorbereitet, die Außenstellungen waren durch Leuchtsignale verständigt, wir brauchten nur noch im Deckungsgraben ihr Eintreffen und die Sprengung abzuwarten. Die Geschütze waren schnell erledigt, die Zerstörung der Unterkünfte dauerte etwas länger, die Erde zitterte, als die Mitte des Betonberges auseinanderriß. Wir hockten zusammengekauert in unseren Löchern, ausgerüstet nur mit dem, was jeder am Leib tragen konnte. Es fehlte nur noch der Luftwaffenstab. Die Zeit drängte, der Nebel hob sich, die ersten Granatwaffen jenseits der Kassatschabucht gaben Einzelfeuer, um zu testen, ob unsere Batterie wirklich tot war. Da kam ein Läufer aus der Unterkunft des Luftwaffenkommandos mit der Meldung, es lebe dort keiner mehr, die Herren hätten sich, während wir unsere Batterie zerstörten, das Leben genommen. Ich weiß nicht, ob die anderen meine Gedanken teilten, ich erinnere mich nur, daß mir alles gleichgültig war, nur eines nicht: jede Möglichkeit zu nutzen, und sei sie so dünn und schwach wie der Faden einer Spinne. Sie sollte mich bereit finden, mein nacktes Leben zu retten. Granateinschläge gaben uns die Richtung an, in die wir laufen mußten. Und doch gab es auch hier noch zahllose Möglichkeiten des Irrens. Da schreit einer im Nebel weithin nach einem Sanitäter. Ich bin wütend über das Geschrei, das mich hindert, die letzten noch verbliebenen Spuren ehemals bedeutsamer Imperative in mir zu tilgen. Widerwillig krieche ich auf die Stimme zu, und während ich mich noch damit beschäftige, ihre Entfernung abzuschätzen, ruft mir meine eigene zu: Schlag ihn tot! Du kannst ihm nicht helfen, aber er wird verhindern, daß du dir selber hilfst. Wie ich diesen Schreihals hasse, der dort im Dunkel liegt, und zugleich mich selbst! So krieche ich auf ihn zu und sehe, wie er mir langsam entgegenkommt. Sehr sinnreich bedient er sich eines Gewehrkolbens, um sich vorwärtszuziehen, denn er schleppt seine Beine wie eine schwere Last hinter sich her. Ich kann dich jetzt nicht verbinden, sage ich, du kannst dich an mir festhalten. Seine Hand tastet nach meinem Leibriemen, für Sekunden sehe ich sein erschrockenes Gesicht, dann sagt er: Ich halte dich nur auf, laß mich hier verrecken! Mach keine Dummheiten, erwidere ich und denke, es wäre wohl besser, wenn du krepiertest. Der Gedanke strengt mich an, denn was ich tue, ist ganz unabhängig von seinem schrecklichen Inhalt. Ich fasse ihn unter den Armen, er hält sich an meinem Lederzeug, ich höre sein Keuchen, und auf einmal geht es ganz gut. Weil ich an nichts mehr denke? Oder weil ich mir einrede, es wäre mein eigener Leichnam, den ich hinter mir herschleppe? Beinahe lustvoll ist es plötzlich, alles zu vergessen und sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Am Ende wissen wir beide nicht mehr, wie lange wir schon unterwegs sind. Ich erwache unter einer weißen, vom Morgenlicht vollgesogenen Nebeldecke.

Dem Mann neben mir ist der Stahlhelm über die Augen gerutscht, er rührt sich nicht, als ich ihn frage, ob er geschlafen habe, gibt er keine Antwort. Seine Hand umklammert meinen Leibriemen, aber sie ist kalt und starr. Vor meinen Augen ragt im dünner werdenden Nebel, von der Sonne beschienen, der Leuchtturm von Chersonnes. Hinter den Uferfelsen liegt düster, schwarz an einigen Stellen, das Meer wie ein übriggebliebenes Stück Nacht. Die Anlegestellen mit dem Gewimmel wartender Menschen gleichen schorfigen Wunden auf einer geschundenen Haut. Ein bärtiger Landser, der hinter einem Steinhaufen ein Stück Brot kaut, höhnt über mein Ansinnen, mit ihm zusammen den Toten zu begraben. »Bin ich ein Begräbnisinstitut? Du siehst doch, daß ich esse.« Ich schleppe den Leichnam in einen Granattrichter, decke ihn mit ein paar Steinen zu. Dann setze ich mich an den Küstenrand.

Viel zu langsam näherten sich die Fähren dem Land. Auch andere, größere Schiffe tauchten auf, zwei Frachter und ein Kriegsschiff, die in einiger Entfernung vor Anker gingen. Das Ganze sah in der Morgensonne aus wie die Vorbereitung zu einer Seeschlacht, genauer: wie die Formierung der Komparserie zu einem Gemälde einer Seeschlacht, wobei der Gegner an Land und in der Luft zu denken war. Aus einem Lautsprecher wurden Befehle erteilt, eine heisere Stimme appellierte sogar an die Vernunft und forderte, die Verwundeten vorzulassen und die Fähren nicht zu überladen. Schon hatten die ersten, bis zur Brücke schwer beladen, abgedreht und verschwanden in südwestlicher Richtung, da die beiden Transportschiffe keine neuen Ladungen mehr aufnehmen konnten. Immer wieder flogen Kampfflugzeuge über sie hinweg, mähten mit ihren Bordwaffen in die an Deck zusammengedrängten Menschen oder warfen Bomben, die ins Wasser fielen bis auf eine, die das Schiff in einen mächtigen Rauchpilz verwandelte. Sekundenlang stand die Wolke über der Wasserfläche und teilte sich dann in graubraune Schwaden, aus denen Wrackteile als schwarze Splitter aufs Wasser herunterregneten. Unter den abziehenden Schleiern war jetzt ein weißer Schaumkranz, aber nicht die geringste Spur von einem Schiff mehr zu erkennen. Derweilen gingen die Übersetzmanöver zu den Fähren und dem weiter draußen liegenden rumänischen Zerstörer weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Wenig später brach an Bord des zweiten Transporters Feuer aus, griff so schnell um sich, daß viele, in der Hoffnung, von den Fähren aufgenommen zu werden, über die Reling stürzten und dabei elend zugrunde gingen. Denn schon hatten zahlreiche Fahrzeuge die gefährliche Küstenzone verlassen, neue kamen nicht mehr hinzu, wer noch an Land war, mußte auf Tod und Leben eine der noch anliegenden Fähren erreichen. Ein Offizier, der die Bordkante einer Fähre erklettert hatte, bedrohte jeden mit seiner Pistole, der es ihm gleich tun wollte. Ein Maat verkündete durchs Megaphon, daß nur Verwundete Zutritt hätten. Ein ohrenbetäubendes Geschrei hinter uns war die Antwort. Da kam einer aus unserer Gruppe auf den Gedanken, herumliegende Verwundete zum Landesteg zu tragen und im allgemeinen Gedränge mit an Bord zu gehen. Damit man uns von dort nicht mehr vertreiben konnte, warteten wir auf den Augenblick kurz vor dem Ablegen. Sogleich als unbefugte Passagiere erkannt, wurden wir kurzerhand zur Bordwand des seewärts liegenden rumänischen Zerstörers gebracht, wo wir während einer Feuerpause über die Jakobsleitern an Deck klettern konnten.

So schnell wie total empfand ich einen Szenenwechsel. Obwohl der Zerstören beidrehte und bald wieder ins Feuer der gegnerischen Artillerie geriet, machte das neue Milieu aus Eisen und Stahl einen ernüchternden und dadurch irgendwie sicheren Eindruck. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß uns zwischen den genieteten Stahlplatten noch etwas zustoßen würde. Ich stieg über einen Niedergang zum Vorderdeck und ließ mich an der Ankerwinde zwischen dem Sockel einer Zweizentimeter-Flakkanone und einer in Feuerstellung aufgerichteten Dreisieben nieder. Dort waren gerade einige dabei, ihre Eßvorräte auszupacken, als das Flugzeug, das kurz vorher seinen Anflug abgebrochen hatte, zurückkam und mehrere Salven über das Mittelschiff abgab. Während der Feuerstöße der beiden Geschütze war ich auf allen Vieren um die Winde heruragekrochen, aber es wäre nicht nötig gewesen, das Vorderdeck war offenbar kein lohnendes Ziel. Doch die Flugzeuge ließen uns nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie kamen einzeln, zu zweien, zu dreien, in verschiedener Höhe und aus verschiedenen Richtungen. Einmal erzitterte das Schiff und sank so heftig ins Wasser, daß zwei mächtige Brecher über das Seitendeck rollten: Wir hatten einen Bombenvolltreffer ins Achterdeck bekommen, ein öltank schien getroffen. Als ich auf dem Gangbord nach hinten ging, sah ich das angerichtete Unheil. Zu beiden Seiten lagen die Toten reihen­weise, zum Teil als Klumpen blutigen Fleisches übereinander, das Blut mischte sich mit dem auslaufenden Öl. Da ein Ende der Luftangriffe nicht abzusehen war, breitete sich Verzweiflung aus, besonders als an einigen Stellen schwarzer Quahn aus den Luken drang und das Schiff nach Steuerbord zu krängen begann. Dann kam die Meldung, daß noch Funkverbindung mit Konstanza bestand, eine Jagdstaffel sei zu unserem Schutz unterwegs. Und was niemand für möglich gehalten hätte, die Steuer­bordseite hob sich wieder. Im schrägen Licht der Nachmittagssonne entfernte sich das Schiff langsam von der in einer Flammenwolke versinkenden Küste der Tauris. Als es stiller wurde, nähten wir die nicht mehr erkennbaren Leichenteile in Zeltplanen ein und warfen sie über Bord. Kurz vor Einbruch der Dämmerung färbten sich die Kämme der Wellen rötlich, es war aber das Meer, das noch einmal weithin aufglänzte, bevor es dunkel wurde. Die Nacht kam und verging mit Aufschrecken aus dein Halbschlaf, weil ich glaubte, es habe jemand geschrien; wenn ich hinhorchte, drang aus einer Luke das Stöhnen eines Verwundeten. Gegen vier Uhr tauchten die Umrisse der Hafen­anlagen von Konstanza auf. In den Blut- und Ölgeruch an Bord mischte sich trotz der Fäulnisgerüche des Hafens die Morgenluft vom Land, sie schmeckte nach Laub und Erde. Nach einer Überfahrt von neun Stunden machte der Zerstörer »Regele Ferdi­nand« - der einzige Zerstörer, den Rumänien im Schwarzen Meer zur Verfügung hatte - mit einhundertsiebenundachtzig Toten und über vierhundert Schwerverwun­deten an einer abgelegenen Stelle des Hafens von Konstanza fest.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir die letzten Toten und Verwundeten vom Schiff trugen. Uns selbst den Überlebenden der Katastrophe, wurde bei Strafe verboten, die Stadt zu betreten. Zerlumpt, mit Blut und Öl beschmiert, sollte unser Anblick den aus der Heimat herangeholten Reserven wohl erspart werden. Mit bren­nenden Augen standen wir nach Erledigung unseres grausigen Geschäfts an der Kai­mauer und bestiegen die Lastkraftwagen, die uns auf stundenlanger Fahrt in unser Auffanglager Mangalia an der bulgarischen Grenze brachten.

 

* Dieser Text beruht auf handschriftlichen Notizen, die der Verfasser zum Teil im Leitstandsbunker der Batterie Chersonnes, dem äußersten Küstenvorsprung der im Süden von Sewastopol gelegenen Krim, zum andern Teil in der Lazarettbaracke von Eforia nach der Rückführung von der Krim gemacht hat. Sie wurden nach Rückkehr aus der Gefangenschaft 1946 unter dem Titel »Taurisches Tagebuch« niedergeschrieben. Teile daraus erschienen vor Jahren in der »Neuen Rundschau« und der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Zum vorliegenden Abdruck schreibt uns der Autor:

»Beim Lesen von Tolstois Berichten war ich manchmal überrascht von gewissen Parallelen in den Details, als habe sich zwischen 1855 und 1944 nicht viel verändert. Verglichen mit der Nukleartechnik künftiger Kriege war der unsere ein letzter Ausläufer der Stahl- und Eisen bzw. in seinen moralischen Aspekten der allerjüngsten Steinzeit. Wir können nur hoffen, daß der nukleare >Apparat<, wenn es einmal so weit kommen wird, ebensowenig funktioniert wie der unsrige funktioniert hat; denn am Ende wurde der letzte Krieg nicht von der Masse des Materials, sondern von der moralischen Überlegenheit unserer Gegner entschieden. Den jungen Menschen, die nichts als einen Sack mit Handgranaten auf dem Rücken und fleißig damit werfend in unsere Stellungen einbrachen, hatten wir nichts entgegenzustellen.«

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