FAZ 29.03.1975


Heinrich Böll über Ernst Jünger
Das meiste ist mir fremd geblieben

Es fällt mir nicht leicht, über Ernst Jünger zu schreiben. Ich bin mit mir selbst nie über ihn einig geworden. Diese Uneinigkeit betrifft nicht einmal Ernst Jüngers moralische, sie betrifft eher seine ästhetische Dimension.

Ernst Jünger wäre für mich ein Anlaß, über ein Thema zu meditieren, das ich "Die Ungerechtigkeit des Lesens" nennen würde. Wie wichtig, entscheidend sogar ist es, in welchem Augenblick, in welcher Stimmung, in welcher Autoren- oder Bücher-Gesellschaft man einen Autor kennenlernt. In einer Zeit, in der ich von zwei so absolut gegensätzlichen Autoren wie Dostojewski und Chesterton fast ganz besetzt war, las ich als erstes Buch von Ernst Jünger "Auf den Marmorklippen". Für dieses Buch war einfach kein Platz mehr frei - es geriet in einen Augenblick der Lese-Ungerechtigkeit, in ungerechte Gesellschaft und auf ungerechten Boden. Jahre davor war ich von Leon Bloy und Georges Bernanos besetzt gewesen. Hinzu kommt, daß ich natürlich von Herkunft, Erziehung und Neigung nicht gerade auf Ernst Jünger vorbereitet war.

Und doch hätte es da einen günstigen Einstieg gegeben: Ich hörte die Namen Ernst und Friedrich Georg Jünger zum ersten Mal von Gerhard Nebel, der einmal vertretungsweise für einige Wochen unser Deutsch- und Boxlehrer war. An die Lehrer des Gymnasiums, das ich ein Jahr nach Nebels stürmischen Auftritten absolvierte, erinnere ich mich mit großer Dankbarkeit, auch an Gerhard Nebel.

Ich war in beiden Fächern, die Nebel gab, keine Glanznummer, im Boxen noch weniger als im Deutschen, aber Nebel hatte meine volle Sympathie. Er trug uns damals Gedichte von Friedrich Georg Jünger vor, machte uns auf Ernst Jünger aufmerksam und erklärte uns ziemlich offen, daß die Einführung des Boxens auf deutschen Schulen einem anglophobisch-anglophil gemischten Minderwertigkeitsgefühl der Nazis entsprungen sei. Es gab da zwei rabaukenhafte Nazis unter unseren Lehrern, die beide nicht in unserer Klasse unterrichteten; die anderen Lehrer waren schlimmstenfalls Hindenburgianer, die meisten waren beides nicht: weder Nazis noch deutschnational.

Nebel war schwer zu plazieren. Diese Mischung aus höchster Sensibilität mit einer gewissen Rauhbeinigkeit, etwas Poltrig-Liebenswürdig-Bärenhaftes; dazu war er "strafversetzt"; es wurde geflüstert, er sei Kommunist - zumindest gewesen. Unsere Lehrer ließen uns viel freundliches Entgegenkommen spüren, sie wußten wohl besser, was wir nur ahnten: daß der Krieg bald kommen würde. Gerhard Nebel paßte so gar nicht in diese stille, katholische Schule, die passiven Widerstand ausstrahlte - und ein oder zwei Jahre später von den Nazis aufgelöst wurde -, und doch, das spürte ich, Nebel "gehörte dazu".

Ernst Jünger hatte also gute Empfehlungen, aber erst im Jahre 1939, wenige Monate- oder gar Wochen vor Kriegsausbruch, las ich dann die "Marmorklippen"'. Das Erscheinen dieses Buches war eine Sensation, es galt als das Buch des Widerstandes. Es wurde in unserer Familie diskutiert, ein Freund, begeisterter Jüngerianer, interpretierte es mir, aber ich sprang nicht recht ein und nicht an ... ich war besetzt, vielleicht sogar besessen und wohl ungerecht.

Natürlich erkannte ich den Mut des Autors, aber seine Mystik und seine Symbolik erschienen mir als zu weit hergeholt, die Sprache als zu künstlich-gepflegt. Gegen Bloy und Bernanos, Dostojewski hielt er nicht stand - und da ich gleichzeitig von der katholisierten Eleganz Chestertons beeindruckt war, erschienen mir die "Marmorklippen" als zu "deutsch". Der Ernst Jünger der "Marmorklippen" war mir zu weihevoll, auch zu sehr für Eingeweihte, nicht der moralische Einstieg mißlang, der literarisch-stilistische. Natürlich wußte ich auch, daß dieses Buch in unserer Situation und für diese wichtiger war als meine Lieblingslektüre, und doch: Die erste Annäherung mißlang.

Dem Jünger des "Abenteuerlichen Herzens", das ich während des Krieges las, kam ich schon näher, aber erst später, wohl 1943, als ich in einem Lazarett "In Stahlgewittern" las, fand ich zu meinem eigenen Erstaunen Zugang. Es wurde mir an diesem Buch der Unterschied zwischen dem Soldatischen und dem Militärisch-Militaristischen bewußt gemacht, und gerade weil diese Welt der Stahlgewitter, des Heroischen, der Aktion mir so vollkommen fremd war (und ist), verstand ich zum ersten Mal, was am "Fronterlebnis", das ich bisher nur in der kleinbürgerlichen Angeber-Anekdote kannte (nicht von meinem Vater!), über das Politisch-Geschichtliche hinaus einen Autor wie Ernst Jünger fasziniert haben mußte. Auf dem Umweg übers Exotische konnte ich "verstehen".

Extremer Zivilist, der ich bin und schon damals - auch in Uniform - so deutlich war, daß alle intelligenten Berufssoldaten mich kopfschüttelnd aufgaben, habe ich mich mit Berufssoldaten immer besser verstanden als mit den übereifrigen Reservisten vom meist peinlichen deutschen Oberlehrertyp. Und da ich außerdem nicht nur antipreußisch erzogen und antipreußisch gediehen bin, kann ich mir jetzt, wo es sie nicht mehr gibt, erlauben, die Qualitäten des Preußischen zu erkennen, und so verstehe ich natürlich Ernst Jüngers Klage über den Verfall der deutschen Armee, wenn ich auch keineswegs in diese Klage einstimme.

Ich weiß nicht, ob Ernst Jünger wirklich, wie das Gerücht geht, an der Heeresdienstvorschrift mitgearbeitet hat (wahrscheinlich würden komplizierte kybernetische Instrumente und Berechnungen, mit denen man jetzt Scholochows Nicht-Autorschaft beweisen will, auf die alte Heeresdienstvorschrift angewendet, dienlich sein!), aber wenn Ernst Jünger Mitautor ist, so habe ich den Autor Jünger natürlich auch in diesem Text gespürt und erfahren, denn, was immer sie sonst gewesen sein mag: Präzis war sie, die Heeresdienstvorschrift, deren Inhalt mir aufs äußerste mißfiel, deren formalistischen Rang ich aber erkennen konnte. Der von Literaten konstruierte, von Bürgern leidenschaftlich aufgenommene - wie ich finde - künstliche Gegensatz von der reinen und der engagierten Literatur ist ja auch in Ernst Jünger aufgehoben.

Ich ziehe den subtilen Jäger und Kriegsbuchautor Ernst Jünger dem Erzähler vor. Das Symbolisch-Lehrhafte, mit dem etwas demonstriert werden soll, ist mir auch bei Bert Brecht weniger zugänglich als seine Gedichte. Am Erzähler Jünger fällt mir auf, daß er, als Erzähler, nicht als Person! - so selten mit Frauen umgehen kann; es kommt da manchmal etwas peinlich "Kasinohaftes" hinein.

Was mich an Ernst Jünger in Erstaunen versetzt, ist die (möglicherweise nur scheinbare) Unberührtheit. In manchen langen und offenen Gesprächen mit jungen Leutnants während des Krieges ist mir klar geworden, welche Bedeutung Ernst Jünger für eine, wahrscheinlich für zwei Generationen von Offizieren gehabt hat. Er war ihr Prophet, er war ihr Magier, er war ihr Meister vom Stuhl, und ich hatte - gerade weil mir ihre Denkweise und ihre Existenz so fremd waren - viel Sympathie, die manchmal nahe an Freundschaft herankam, für diese Todeskandidaten.

Das meiste an Ernst Jüngers Werk ist mir fremd geblieben: das Zelebrative, Weihevolle, Eingeweihte. Als mich neulich jemand, wohl provokativ, fragte was ich denn mit Ernst Jünger gemeinsam haben könnte, fielen mir einige (zunächst bloß statistisch) gemeinsame Merkmale ein: Wir sind beide Deutsche, beide deutsche Autoren, wir haben beide am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, wir lesen - wie ich, was Ernst Jünger betrifft, den "Strahlungen" entnahm - beide regelmäßig die Bibel und - etwas für einen Zivilisten wie mich absurd Lächerliches, für einen Soldaten aber wichtiges - sogar die Waffengattung haben wir gemeinsam gehabt, und es gibt da "Begegnungen", die ich in den "Strahlungen" entdeckte: als junger Soldat, der sich, wann immer er konnte, Dienstreisen nach Paris erschlich, kaufte ich die mir noch unbekannten Werke und Tagebücher von Leon Bloy, die ich mir in Cafes und Wartesälen entzifferte zur gleichen Zeit, als auch Ernst Jünger in Paris Bloy las.

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