FAZ 15.01.1955


Arthur Rathke
Besuch auf Godenholm

Es ist natürlich keine Insel, auf der Ernst Jünger wohnt, jedenfalls nicht nach geographischen Begriffen; aber wer seine neun Stunden Autofahrt hinter sich hat aus unseren Bonner Gefilden und schließlich in das südwürttembergische Land gelangt, das wie Biedermeier anmutet, der fühlt die Inselhaftigkeit des stillen Hauses fast körperlich. Was ist Ernst Jünger heute? Eine Stimme, deren Klang in der Nähe des Seherhaften liegt, eine Autorität, die man auch noch hören mag, wenn sie schweigt. Und schweigen kann er wie kein zweiter. Er schweigt, während das durchsichtige Wässerchen der Konversation dahinplätschert, die Hand an die Stirn gestützt, auf der der neugierige Besucher zunächst das Stirnband des Sehers von Godenholm vermißt.

Doch schon hier und da im Gerede blitzt ein Funke auf, so, wenn der Hinweis auf die frische Gesichtsfarbe des Hausherrn seine Antwort auslöst, er sei zu botanischen Studien in Sardinien gewesen und habe dort die Macchia studieren können als die Landschaft des südlichen Waldgängers. Eine Fülle von Assoziationen bricht im Zuhörer sogleich an, aber er spricht nicht weiter; zwischendurch ist wieder der berühmte Charme da, der sich durchaus im kleinen bestätigt. Nicht jede Bemerkung ist orphisch - wer könnte auch als Orphiker Tee mit Rum trinken? Nur die Gebärde, den schweren Kopf zu stützen, kehrt wieder, und auch Chiffren, die ins Werk weisen:

"Es gibt eine Art, jemand die Wahrheit zu sagen, wobei er sich obendrein auch noch geschmeichelt fühlt." Wer denkt da nicht sogleich an die "Marmorklippen", auch wenn er es damals vielleicht nicht verstanden hat?

Anders das Gespräch. Man zieht sich zurück, die Geräumigkeit der Haus-Insel erlaubt dies, vorbei an den entomologischen und botanischen Werken, der großen Bibliothek, die nur noch übertroffen wird von der des Herrn von Stauffenberg, des Schloßherrn gegenüber. Keiner wird annehmen. daß es so leicht sei, mit Ernst Jünger ins Gespräch zu kommen. Seine Bescheidenheit, die nicht so prätentiös ist, daß man sie zu fühlen bekäme, und nicht so groß, daß er sich leicht aufschlösse, erlaubt ihm nicht, autoritär zu sprechen. Wir seien von weit her gekommen, so beginnen wir, um mit ihm über etwas zu reden, was uns sehr am Herzen liegt. Soll Deutschland, kann die Bundesrepublik verteidigt werden? Wir werden dringlich: auch die zwölf Divisionen, so sagen wir, werden nicht imstande sein, die deutsche Ostgrenze, die nun einmal mit dem Eisernen Vorhang identisch ist, so zu verteidigen, daß kein Roter unser Land betritt ... Müssen wir nicht alle, wenn es schon die Politiker nicht tun, als Söhne, Väter, Ehemänner alles versuchen, um einer solchen Bedrohung zu widerstehen?

Schweigen. Jünger sitzt in seinen Barockstuhl, die Stirn gestützt und beginnt versonnen: "Was dieses Thema betrifft, so habe ich mir Schweigen auferlegt. Ich habe meine Erfahrungen mit dem berechtigten Widerstande gegen den sogenannten Versailler Vertrag Vertrag. Was man bei jedem unserer Nachbarvölker als Ehre betrachtet, wird bei den Deutschen als Verbrechen angesehen. Dem Ausländer fällt es schwer, sich in unsere Mittellage hineinzudenken. Wir würden gern den Franzosen oder Schweizern unsere Ostgrenze abtreten! Heute ist übrigens die Lage günstiger als nach dem Versailler Vertrage, und zwar deshalb, weil sie provisorisch ist. Infolgedessen haben wir zwar alles zu fürchten, aber bei geschickter und temporisierender Führung Grund zu großen Erwartungen. Obwohl das Provisorium hart ist, dürfen wir es uns nicht zu billig abkaufen lassen. Wir müssen den vollen Preis fordern, das heißt unsere gerechten Grenzen, die den Frieden gewährleisten. Ich glaube nicht an einen baldigen Krieg. Die Bedrohung, von der Sie sprechen, gewinnt in meinen Augen etwas Chimärisches; ich habe im "Gordischen Knoten" zu zeigen versucht, daß der Osten seine Grenze selbst findet. Die Thermopylen sind mehr als eine Schlacht, sie sind ein Symbol ..." - "Die Thermopylen, Herr Jünger", sagen wir aggressiv, "waren von Soldaten besetzt!" Er blickt auf und fragt nach unserer Konzeption. Wir bringen was heute schon mehr als einer vertritt: die Ostgrenze der Bundesrepublik soll in einer Tiefe von etwa fünfzig Kilometer elastisch verteidigt werden, zunächst vom Grenzschutz, der, selbst vergrößert, von einer Miliz, dem Heimatschutz, verstärkt werden müßte, und dahinter würden als taktische und strategische Reserven die atlantischen Truppen lauern, um jeden Angriff und jede Bereitstellung sogleich zu zerschlagen. Vor allem muß, so sagen wir, jede deutsche Truppe durch ihre Bewaffnung das Risiko für den Angreifer so groß werden lassen, daß er auf seinen Angriff verzichtet. Die Defensive ist unsere einzige Möglichkeit; Ausrüstung wie Ausbildung der Heimatschutztruppen an der Grenze und in der Heimat müßten auf die reine Abwehr eingestellt sein und keineswegs eine Bedrohung für friedliche Nachbarn darstellen.

"Ich weiß", antwortet Jünger, "daß ich mich im Falle eines Angriffes verteidigen werde. Darüber müssen sich auch die jungen Leute äußern, erst dann hat Rüstung Sinn. Eine Rüstung ohne diesen Willen ist schlechter als gar keine. Ein Volk, das seine Soldaten nicht achtet, braucht nicht zu rüsten, das wäre paradox." Aber dies sei ohne Zweifel der günstigste Fall. daß nämlich das Risiko eines Angriffes dem Aggressor. zu groß werde. Unnütz, darauf hinzuweisen, daß wir Deutschen unser Heil nicht im Präventivkrieg suchen dürfen. "Es gibt heute eine Art der Verteidigung, die den Angriffskeil des Gegners umfaßt wie einen Bienenstachel und seinen Tod zur Folge hat. Zu ihr ist nur ein Volk imstande, das weiß, was Freiheit ist. Wenn die Menschen entschlossen sind, wird die Uebermacht illusionär."

Aber die Milizlösung zur Unterstützung der aktiven Truppe habe auch vom Staatsbürgerlichen her etwas für sich. Im "Waldgang" sei der Einzelne angesprochen worden, er habe keine Folgerungen für die Gesamtheit daraus ziehen wollen. Nun handele es sich aber gerade darum, so werfen wir ein, den "Waldgang" des Einzelnen sozusagen zu legitimieren; "Ein Volk von Waldgängern" fordern wir mit leicht ironischer Emphase. "Es ist vor allem zu bedenken", meint Ernst Jünger. "daß heute die Kraft in der Arbeit und ihrem Potential liegt und daß es einerseits auf die Erhöhung des Potentials ankommt, andererseits auf die Verkürzung der Transformationsspanne. Je länger sich Rüstung mit gutem Gewissen hinausschieben läßt, und je schärfer sie vorbereitend durchdacht wird, desto größer wird der Effekt. Je länger man in dem Stadium verweilen kann, in dem Arbeit Macht ist, desto kürzer wird das Stadium sein, in dem Macht in Arbeit verwandelt werden muß." Im übrigen hätten wir wahrscheinlich recht; die Verteidigung der Heimat, in der engeren Heimat vorgenommen, gebe auch Kontrollmöglichkeiten, die über die militärisch-disziplinäre Aufsicht hinausgingen. Die These "Lieber den Iwan als den Kommiß" komme in einer Heimatschutztruppe nicht zum Tragen; die weiße Fahne aus dem Dachfenster ist möglich, wenn die Truppen dem Ort, den sie verteidigen, fremd sind -nicht aber, wenn jedermann weiß, wer sie gehißt hat. Aber letztlich, so schließt Jünger, äußere er sich für dergleichen Lösungen wie zum Kriegerischen, überhaupt nur deshalb, um einen Krieg zu vermeiden: in diesem Falle durch das verstärkte Risiko. Keineswegs wolle er seine Aeußerungen im Sinne der vordergründigstenn Tagespolitik verstanden wissen; die Entscheidung, zwischen westlicher und östlicher Daseinssicht werde im Geistigen ausgetragen. Das schließe allerdings nicht aus, 1daß man sich um die Verteidigung der Heimat, die zugleich ja die Verteidigung Europas ist, ernste Sorgen macht. Was zu deren Verwirklichung dient, könne der Unterstützung eines jeden sicher sein, dem die Freiheit Grundvoraussetzung unseres Daseins ist.

So scheiden wir; wie nach der Lektüre eines Jüngerschen Buches haben wir eine Auskunft erhalten, die uns das eigene  Nachdenken nicht erspart. Nur der Weg mag gewiesen sein, die allgemeine Richtung; und ist das nicht genug in einer Zeit, deren Richtungslosigkeit immer evidenter wird?

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