Ahmad Gross
Ernst Jünger und der Islam


Ernst Jünger ist einer der größten Autoren der deutschen Sprache. Lange schon spricht das Ausland von den drei Großen dieses Jahrhunderts: Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger.

Zusammen mit dem Denker Martin Heidegger und dem Juristen Carl Schmitt gehört Ernst Jünger zu den großen geistigen Gestalten des Jahrhunderts. Heidegger stellte die Frage nach dem Sein. Schmitt suchte das Gesetz, den neuen Nomos einer zukünftigen gerechten Gesellschaft. Jünger bewahrt die unantastbare adamisch-prophetische Gestalt des Menschen.

Nicht nur seine ungebrochene Schaffenskraft in seinem 102. Lebensjahr, sondern seine einzigartige Erscheinung machen Ernst Jünger zu einem Phänomen im geistigen Leben des Abendlandes an der Schwelle zum kommenden Jahrtausend.

Ein Text über Ernst Jünger kommt nicht umhin den Grundcharakter seines bewegten, langen Lebens zu beschreiben, das er seit dem wilhelminischen Kaiserreich durch alle folgenden politischen Epochen als Zeuge und Analytiker, als "Seismograph" begleitet hat. Ernst Jünger verfügt über "eine untrügliche Witterung für die Möglichkeiten und Gefahren seiner Epoche, der er eigentlich immer im voraus die Diagnose stellte." (Siedler, Focus 13/95) Daß die präzisen Diagnosen in dieser Zeit nicht nur Angenehmes vermelden konnten, hat ihm durch alle Umschwünge der politischen Systeme hindurch manche voreilige Gegnerschaft eingebracht. Jünger gab darauf die berühmte Antwort, daß man das Barometer nicht für den Taifun verantwortlich machen könne.

Als Dichter, Naturforscher und Denker hat er den Nihilismus unserer Zeit, die Herrschaft der Technik als "große Weißung" erfahren und sich den titanischen Gewalten trotzdem nicht unterworfen. Der Sturm dieses Jahrhunderts hat im Ersten Weltkrieg die Monarchie, im Zweiten den Nationalstaat überwunden. Unbemerkt und ohne jede demokratische Abstimmung seien wir, so Jünger dem übernationalen Verbundsystemen der Elektrizitätsverbraucher, der Autobahnbenutzer, der Steuerzahler beigetreten.

1932 erkannte Ernst Jünger als erster die weltweit erscheinende klassenlose, mythische Gestalt des "Arbeiters", dessen "Uniform die Technik" sei. 1960 sprach er bereits vom "Weltstaat", womit er - seiner Zeit um dreissig Jahre voraus - den Zusammenbruch der Ost-West Gegnerschaft und die mittlerweile landläufige Globalisierung vorwegnahm. Ein Tagebucheintrag aus dem Jahre 1983 lautet:
"Die Untat wechselt ihre Namen; sie bleibt unausrottbar und permanent. Auch der Geldverkehr hat sich dynamisiert und ist abstrakt geworden; er erlaubt Transaktionen von einem Raffinement, das sich dem Gesetz entzieht. Man wird nicht mehr der Börse, sondern an der Börse beraubt."(Siebzig verweht III., 242)

Jünger hielt sich nie in der Dialektik von pro oder contra, Materia­lismus oder Idealismus auf, der roman­tische Rückzug war seine Sache so we­nig wie die ohnmächtige Hinnahme der technischen Einebnung des Lebens. Jünger erinnert an die Grenzen der Technik, der Ausbeutung der Erde. Er unterscheidet zwischen der Erde als titanisch-mechanisches Rohstofflager und einem organischen Körper, der dem Menschen zugemessen ist. In sein­er lebenslangen Suche nach menschli­cher Freiheit inmitten der planetari­schen nihilistischen Herrschaft der Technik, den "übermächtigen Tatsachen" (Weltbürgerkriege, atomare Be­drohung, Umweltzerstörung, Erbgutmanipulationen etc.) ließ Jünger sich nie in die Passivität drängen.

Den verschiedenen Ausprägungen des Nihilismus begegnete er mit einer grundlegend neuen Weise des Sehens. Die sich wandelnden Gestalten des Soldaten, des Arbeiters, des Waldgängers, des Anarchen lassen sich durch keine äußere Katastrophe in ihrer unantastbaren menschlichen Freiheit und Schicksalshaftigkeit beirren. Seine wichtigste Schrift nach dem Zweiten Weltkrieg ist für viele "Der Waldgang" in der er den Leser zum Kampf für seine Freiheit ermutigt. Dieses Werk ist eines der seltenen Beispiele eines Buches, das mit der Zeit an Aktualität gewinnt:
"Der Waldgänger ist der konkrete Einzelne, er handelt im konkreten Fall. Er braucht nicht Theorien, nicht von Parteijuristen ausgeheckte Gesetze, um zu wissen, was rechtens ist. Er steigt zu den noch nicht in die Kanäle der Institutionen verteilten Quellen der Sittlichkeit hinab. Hier werden die Dinge einfach, falls noch Unverfälschtes in ihm lebt."

Durch die Jahrzehnte seines heute fünfundsiebzigjährigen Schriftstellerlebens vollzieht Ernst Jünger die Wendung von der Politik, von der Geschichte zum Mythos. Zur Zeit des Falles der Mauer zwischen Ost und West, dem Ende der Ideologien, sagte er mit Blick auf das 21. Jahrhundert:
"Ich habe den Eindruck, daß das philosophische Denken vielleicht durch theologische Veränderungen überwölbt werden wird. Und dafür sind eigentlich keine Gedanken mehr nötig, sondern Erscheinungen. Und es wäre vielleicht gut, wenn ein neuer Moses käme und neue Erscheinungen gehabt hätte. Auf jedenfalls wird das 21. Jahrhundert in dieser Hinsicht sehr bedeutend werden. Die alten Werte sind nicht mehr gültig und die neuen, die sind noch nicht da" (19.10.1989, Pressegespräch in Bilbao)

Den Islam sieht Ernst Jünger heute in seinen meist modernistisch-titanische Erscheinungsformen: "Merkwürdig ist die Renaissance des Islam in unserer Zeit. Zu beobachte ist dabei, daß er auf die Technik als die Uniform des Arbeiters angewiesen bleibt." (Die Schere, 191)

In einer Fragerunde nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bilbao wies Ernst Jünger am 19. Oktober 1989 jede Aufrechnung zwischen den Religionen als "vergleichende Religionsgeschichte" zurück und:
"Der intensive Glaube ist jedenfalls bei den Mohammedanern augenblicklich sehr stark vorhanden, auch wo vielleicht Irrtümer sind. Aber ein richtiger Irrtum ist mir noch lieber als ein allgemeines Gerede. "

Die Verweise in Jüngers Werk zum Wesen des Islam sind geprägt von seinem intuitiven Wissen um dessen existenzielle Einheit und Einfachheit. Einige Textstellen seien hier angeführt. In einer seiner späteren, ausgereiftesten Schriften, einem Juwel der deutschen Literatur "Eine gefährliche Begegnung" sagt er über den Kapitän Graf Kargane, eine der großen Figuren der Erzählung:
"Nach seinem Abschied hatte er erwogen, ob er nicht zum Islam übertreten sollte; er spielte mit dem Gedanken heute noch. Es gab kein besseres Mittel, mit sich und der Welt im Gleichgewicht zu sein. Aber wie lange würde man dort noch standhalten?".

Als passionierter Reisender rund um die Welt, stieß Jünger auf die tiefe Bedeutung, die der Muslim der Reise als Lebensgleichnis gibt und hält in seinen Tagebüchern fest:
"In jeder Reise muß Pilgerschaft im alten Sinne eingeschlossen sein. Sonst bleibt sie eine Anhäufung von Bildern (die dem Wanderer schädlich sind), weil sie ihn zer­streut. Der Moslem kennt nicht unsere Reisen, er kennt nur die Handels-, Kriegs- und Pilgerfahrt. Doch sieht er mehr als Lichteffekte und ihre Schönheit, wenn er in der Wüste auf seinem Teppich kniet."(Sämtliche Werke, VI., San Pietro, S. 348)

"Warum ist man im Islam, ohne Teleskope, noch so viel dichter am Unendli­chen? Man hat den Eindruck, daß nur ein dünnes Blättchen die Welten trennt. "Allah il Allah" ist die Gleichung, der unerschütterliche Pfeiler, auf dem sie ruhen. Und der Verstand hat Schärfe nur, weil er sich an diesem Diamanten die Zähne wetzt." (Sämtliche Werke,VI, S. 378,Serpentara)

"Sodann in einem Viertel mohammedanischer Händler - ich weiß nicht welchen Stammes - die Silber- und Seidenwaren feilhielten. Mich erfreuten bereits die Namen auf den Schildern: Amidou, Sansidou, Sidimet. Ich trat in einige dieser Läden ein. An den Wänden hingen Bilder von Mekka und fromme Sprüche, etwa "Alle Zustände wechseln, Gott allein ist konstant", auch allgemeine Maximen, von denen eine mich besonders ansprach 1. Wenn einer nicht weiß, und nicht weiß, daß er nicht weiß, dann ist er ein Dummkopf, meide ihn. 2. Wenn einer nicht weiß, und er weiß, daß er nicht weiß, so ist er belehrbar und wird zum Schüler geeignet sein. 3. Wenn einer weiß, und wenn er nicht weiß, daß er weiß, dann wird er zum Lehrer fähig sein. 4. Wenn einer weiß, und wenn er weiß, daß er weiß, so ist er ein Prophet; folge ihm." (Siebzig verweht II, Monrovia, 1.7.3.1979)

Im Jahre 1985 erhält er eine Publikation über die frühen Sufis zugesandt und veröffentlicht daraus einige Aussprüche in seiner Tagebuch-Reihe:
"Frühislamische Mystiker. Man könnte fast das ganze Heft zitieren. Offenbar eine für uns noch kaum erschlossene Schatztruhe. Abu Bakr Schibli, Mystiker zu Bagdad, bekannt für sein exzentrisches Auftreten, gestorben 945. Über ihn: Einmal hatte er einen Stock in der Hand, der an beiden Enden lichterloh brannte. Man fragte ihn: Was hast du vor? Ich laufe, um mit dem einen Ende das Paradies und mit dem anderen die Hölle anzuzünden, damit die Menschen sich allein mit Gott beschäftigen. Von ihm: Die Wissenschaft stellt fest, das Wissen deutet an." (Siebzig verweht III., 489)

In dem jüngst erschienen fünften Band seiner Tagebücher (Siebzig verweht V.) heißt es am 2. Februar 1991:
"Bei der Post ein Brief aus Granada vom 29. Januar:, "Lieber Doktor, Assalamu alaikum wa rahmatullah Das Lesen Ihres Buches "Der Arbeiter" in Spanisch hat mich überwältigt. Sie haben den Mythos des ökonomischen Menschen zerbrochen, ein selbst verfaßtes Gefängnis, das durch den fortlaufenden Lebensprozeß verdeckt wird. Ich bin Baske und seit 1986 Muslim. Alles, was ich im Islam gelernt habe, bestätigt den Geist und den Inhalt Ihrer Ansichten. Wie ich zu Ihnen in Bilbao sagte, betrachte ich Sie als Muslim, meinen Bruder. Sie haben durch Ihr Leben und Schreiben den Geist der Europäer über die Grenzen des bürgerlichen Ethos hinaus geführt. Sie wählten wie Achilleus, als Held zu sterben, aber Allah hatte für Sie das Weiterleben bestimmt,Sie haben durch Ihr Leben und Schreiben den Geist der Europäer über die Grenzen des bürgerlichen Ethos hinaus geführt. Sie wählten wie Achilleus, als Held zu sterben, aber Allah hatte für Sie das Weiterleben bestimmt, um uns diese Botschaft zu übermitteln. Und Allah ist der beste Verschwörer. Ich möchte Ihnen sagen, daß dieser Geist, den Sie uns überbracht haben, fortgetragen wird. Denn von unserem Islam wurden wir Das Gesetz gelehrt: Ein Gott, Regierung ohne Staat und Handel ohne Wucher. Es wurde uns "Iman" gelehrt, der die Gewißheit verleiht, wenn du Ihn nicht siehst. Und es wurde uns "Ihsan" gelehrt, nichts zu fürchten außer Allah." (Siebzig verweht V., 14)

Generationen von Germanisten und Kritikern meinten das schwer einzuordnende Werk Ernst Jüngers müsse längst unzeitgemäß geworden sein. Tatsächlich wurde es immer jünger, aktueller. Ernst Jünger dient heute unzähligen Menschen aus aller Welt als Richtmaß in einer Welt im großen Übergang.

Botho Strauß schreibt zu Jüngers hundertstem Geburtstag: "Die Epoche der deutschen Nachkriegsliteratur wird erst vorüber sein, wenn allgemein offenbar wird, daß sie vierzig Jahre lang vom Jüngerschen Werk überragt wird. ... (Jünger wurde) für die Jüngeren immer deutlicher zum Prototyp einer kommenden Kunst: der, der in den Verbindungen steht, löst den Subversiv-Radikalen, den jakobinisch-"hölderlinschen" Zeit-Heros ab." (Botho Strauß: Refrain einer tieferen Aufklärung, in: Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten)

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