Badische Zeitung 24.11.1949


Heilung durch Publizität

Das Gespräch über Ernst Jünger, dessen mehr oder minder freiwillige, mehr oder minder interessierte Zeugen wir in den letzten Jahren waren, hatte viel von einem literarischen Spruchkammerverfahren an sich. Da gab es Ankläger wie Benno Reifenberg, der den Verfasser des Arbeiters" 1947 in der "Gegenwart" mit der Verantwortung dafür belastete, daß viele junge Deutsche, fasziniert von der unerbittlichen Lehre des Pour-le-Merite-Trägers, allen Verstand, alle natürliche Herzensregung drangaben und sich nichts Sehnlicheres wünschten, als einem Idol in blindem Gehorsam folgen zu dürfen. Es gab auch Verteidiger, wie Karl O. Paetel, der, in der New Yorker Emigration mit seinem Buch "Ernst Jünger, Weg und Wirkung" den Versuch unternahm, "auf Werk und Person Ernst, Jüngers als Repräsentanz kompromißloser deutscher Selbstbesinnung hinzuweisen". Schließlich glich das Gespräch einem Spruchkammerverfahren auch darin, daß es im Sande verlief. So gehört es zum Stil der unausgetragenen Erörterung über unsere jüngste Vergangenheit, daß Zeitungen, die Jünger vor drei Jahren als geistigen Bannerträger des deutschen Militarismus brandmarkten, heute Würdigungen. seiner. "Strahlungen" veröffentlichen, in denen die Vorwürfe von damals nicht einmal gestreift werden.

Das Exemplarische in der "Schleife"

Jünger hat die Tagebücher, die unter dem Titel "Strahlungen" zusammengefaßt sind (Heliopolis-Verlag, Tübingen), als seinen "geistigen Beitrag zum zweiten Weltkrieg" bezeichnet, "soweit ihn die Feder leistet". Der Leser, der von dieser Selbstdarstellung erwartet, daß sie dem "Fall Jünger" nicht aus dem Wege gehe, wird nicht enttäuscht werden. Allerdings darf er nicht vergessen, daß Jünger "das Exempla­rische seiner Autorschaft, seine Existenz überhaupt" in der Figur "einer besonderen Art von Schleife" sieht; "Wie man aus schwieriger, ja aussichtsloser Lage zurückfindet, nachdem man ihre äußersten Grenzen erstrebte - moralisch, metaphysisch, rational, rein leiblich in den Wirbeln der Feuerwelt." Er wird dann auch nicht überrascht sein, daß Jünger sich über das Verhältnis zwischen seinen früheren und seinen neueren Werken, auf deren Gegensatz seine Verteidiger die Theorie seiner "Wandlung" aufgebaut haben, mit bestürzender Kühnheit äußert: "Meine Bücher über den ersten Weltkrieg, der Arbeiter, die totale Mobilmachung und zum Teil auch noch der Aufsatz über den Schmerz - das ist mein Altes Testament. Den sizilianischen Brief an den Mann Mond ... fasse ich ... als Erinnerung, nicht nur des Scheide-, sondern auch des Kreuzweges auf, an dem ich entweder in die Romantik oder in den Realismus hätte einbiegen können." Er bestreitet nicht, daß sich viele seiner Ansichten, "insbesondere meine Wertung des Krieges und auch des Christentums und seiner Dauer" geändert haben. "Weit wichtiger als aller Waffen- und Geistesruhm und als der leere Beifall der Jugend, der dies und das gefällt", ist es ihm jetzt, nicht zu vergessen, dass er "von Leidenden umgeben ist".

"Den gleichen Weg zurück"

Eine systematische Lektüre der Bibel durchzieht die Tagebücher wie ein roter Faden. Die Bemerkungen, die Jünger daran knüpft, widerlegen die Gerüchte über seine angebliche Konversion zu dieser oder jener Kirche. "Der Christ des zwanzigsten Jahrhunderts", schreibt er, "steht dem Physiker, dem Chemiker, dem Biologen ersten Ranges näher als dem Christen des neunzehnten." Denn: "Ich muß mir Gott zunächst beweisen, ehe ich an ihn glauben. Das heißt, ich muß den gleichen Weg zurückgehen, auf dem ich ihn verließ. Ehe ich mit der ganzen Person und ohne jede Einschränkung mich über den Strom der Zeit zu anderen Ufern wage, müssen kunstreiche geistige Brückenschläge, muß eine subtile Pionierarbeit vorausführen. Schöner wäre gewiß die Gnade, doch entspricht sie nicht der Lage und nicht dem Stande, in dem ich bin. Das hat wohl seinen Sinn; ich ahne, daß ich gerade durch meine Arbeit, durch meine Bögen, deren jeden das Widerspiel, des Zweifels von Grund auf festigt und tragbar macht, - daß ich gerade durch diese Arbeit gar manchen zum guten Ufer mitgeleiten kann. Ein anderer kann vielleicht fliegen oder er führt, die ihm vertrauen, zu Fuß über die Wasser an der Hand, doch scheint es, daß solche das Äon nicht gebiert."

Politischen Einwänden begegnet Jünger mit einer besonders kunstvollen Form der Schleife: "Mein politisches Innere", meint er, "gleicht einer Uhr mit Rädern, die gegeneinander wirken, so bin ich Welfe, Preuße, Großdeutscher, Europäer und Weltbürger zugleich - doch könnte ich mir auf dem Ziffernblatte einen Mittag denken, an dem dies alles zusammenklingt." Zum "Arbeiter", dessen Schilderung er den Vorwurf nächster Nachbar-, ja sogar Vaterschaft zum Nationalsozialismus verdankt, bekennt er sich - mit einem Vorbehalt - noch heute: "Die Zeichnung ist genau,doch gleicht er einer scharfgestochenen Medaille, der die Rückseite fehlt." Nun besteht freilich kein Zweifel daran, daß mancher junge Leser dieses Buches dem Nationalsozialismus in die Fänge geriet, weil die Jüngersche Optik ihn dazu verführte, sich in Katarakte zu stürzen, deren Strömung seine Schwimmkunst nicht gewachsen war. Es ist die Frage, inwieweit ein Autor für solche Wir kungen verantwortlich zu machen ist. Man kann es als einen Mangel der "Strahlungen" betrachten, daß sie darauf die Antwort schuldig bleiben, doch muß man billigerweise hinzufügen, daß der letzte Abschnitt der Tagebücher, der die Zeit unmittelbar nach der Niederlage behandelt, noch nicht vorliegt, da Jünger selbst ihn noch der "Nachreife für bedürftig" hält. Für das endgültige Urteil wird hier viel von dem Verhalten der Betroffenen abhängen. Da die Jüngersche Schule eine Schule der persönlichen Verantwortung ist, müßten sie die ersten sein, die es ablehnen, jemand anders zur Verantwortung gezogen zu sehen als sich selbst.

Sprache als Kamera

Verantwortung ist es auch, was Jüngers Verhältnis zur Sprache bestimmt. Es ist an seinem Werk abzulesen, von der unliterarischen Naivität des Lehrlings, der die Kriegsbücher schreibt, über die manchmal schwer erträgliche Eigenwilligkeit und Preziosität seiner Gesellenstücke bis zur Meisterschaft der letzten Arbeiten.

Jüngers Sprache ist die Sprache eines Arbeiters, der den sprachlichen Rohstoff, wie er in den Werken älterer Meister, Jean Pauls etwa oder Hölderlins, in bisher unausgebauten Schächten verborgen lag, fördert und einschmilzt. Die Masse wird mit mancherlei Zusätzen angereichert, so aus der ganz aufs Gegenständliche ausgerichteten sprachlichen Überlieferung des Generalstabs oder aus dem nach Logik und äußerster Klarheit strebenden französischen Sprachgeist. Schließlich wird der flüssige Stoff in Apparaturen, mit denen umzugehen der Adept beim naturwissenschaftlichen, Stu­dium gelernt hat, geglüht, gezogen und gehärtet mit dem Ergebnis, daß die Sprache einen Grad der Faßlichkeit erreicht, der ihr entweder verloren gegangen war oder nur mit einem Verzicht auf Tiefe erkauft werden konnte. Die so erzielte Präzision der Schilderung hat viel mit der Genauigkeit gemein, wie sie durch die Automaten der künstlichen Wahrnehmung mit ihren Kameras und Mikrophonen erreicht wird, aber sie unterscheidet sich von ihr dadurch, daß sie auch in die Landschaft des Traumes, der Phantasie und des Verstandes ohne Peinlichkeit einzudringen vermag.

Probe in Kaukasien

Das wird besonders deutlich, wenn Jünger in den "Kaukasischen Aufzeichnungen", einem Abschnitt der "Strahlungen", der aus Rußland berichtet, mit der Welt der reinen Energie in Berührung gerät. Zunächst scheint es da, als ob das kunstvolle Bogenwerk seiner Sprache nicht mehr trage. "So wie in Rio oder Las Palmas oder an manchem Meeresufer meine Gänge wohlklingenden Melodien glichen, dringen hier die Dissonanzen kränkend in das Auge ein." Dann wird am sprachlichen Besteck die Ursache der Dissonanzen entdeckt. Sie liegt darin, daß hier "der Wille in allen seinen Fasern beansprucht wird, während die Einsicht müßig bleibt". Schließlich gelingt auch hier die Beschreibung. "Auf der Drahtseilbahn über die Pschisch. Hier, in großer Höhe auf einem schmalen Brette über dem Flußbett schwebend, mit beiden Fäusten an ein Kabel angeklammert, erfasse ich die Landschaft bildhaft, in einem jener Augenblicke, die tiefer schließen als alle Studien. Die kurzen Wogen im Grunde gewinnen etwas Starres und zeitlos Unbewegtes, wie Schuppen an einem Schlangenleibe, die hell gerändert sind. Ich schwebe neben einem der hohen Pfeiler der Tunnelbrücke, der als geborstener Turm mit romanischen Fenstern erhalten geblieben ist. Aus einem seiner Risse lugt, wie bei Bosch aus hohlen Eiern und seltsamen Maschinen Menschen blicken, ein Offizier und ruft der Bedienung eines schweren Geschützes Zahlen, zu. Man sieht die Kanoniere unten sich um ein graues Ungetüm versammeln, dann treten sie zurück und halten sich die Ohren zu, indes ein roter Feuerstrahl die Luft durchflammt. Gleich darauf erscheint wieder aus dem Gemäuer der Zahlen rufende Kopf. Verwundete mit leuchtenden Verbänden werden unten über den Fluß geflößt und dann in Bahren zu den Krankenwagen geschleppt, die zahlreich aufgefahren sind. Die roten Kreuze sind getarnt. Ameisenartig bringen Hunderte und Tausende von Trägern in langen Zügen Bohlen und Draht nach vorn. Mit Übermenschenstimme füllen dabei Melodien von Weihnachtsliedern den ungeheuren Kessel aus. Der Lautsprecherzug einer Propagandakompanie spielt "Stille Nacht, heilige Nacht". Und dabei immer wieder die schweren Mörserstöße, von denen das Gebirge widerhallt. Das Ganze gleicht einem großen Zirkus, der sich dämonisch im Kreisen hält und in dessen Ringen außer den stumpfen nur noch die rote Farbe gestattet ist. Es gilt hier nur Gewalt und Schmerz, die beide ineinanderfließen."

Der sichtbare Autor

Befremdlich für deutsche Leser ist die Anteilnahme, die der Verfasser der "Strahlungen" für sehr persönliche Einzelheiten seiner Existenz beim Leser voraussetzt. Um sie zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß die "Strahlungen" zum großen Teil in Paris geschrieben sind wo die Veröffentlichung von Tagebüchern dieser Art "seit den Diners chez Magny kein Wagnis mehr" ist. Für Deutschland trifft das keineswegs zu. Es gilt hier als gute Überlieferung, daß die Person hinter der Sache zurückzutreten habe. Allerdings ist diese Überlieferung fragwürdig geworden, seitdem der Dämon sich dieser Sachlichkeit bediente um die Person zu überwältigen. Jünger antwortet darauf mit einer Auto-Publizität, die manchmal an das amerikanische human interest erinnert.

Vielleicht liegt auch hier Absicht, und zwar pädagogische Absicht vor. Jünger schildert als das Erschütternde unserer jüngsten Vergangenheit nicht ihre Greuel, sondern das mangelnde moralische Unterscheidungsvermögen, das nicht mehr oder noch nicht in der Lage ist, die Greuel als solche wahrzunehmen. Niemand, der nicht die politischen Narkosen der allerjüngsten Zeit das Gedächtnis geraubt haben, wird ihm darin widesprechen wollen, daß beinahe noch schrecklicher als Folter und Tod die Gelassenheit war, mit der man sich gewöhnt hatte, das Wort, "umlegen", auszusprechen. Heilung von dieser Krankheit ist nur durch äußerste Aufrichtigkeit zu erwarten. Auch stellt sie die beste Abwehr gegen die Angriffe der Pharisäer dar. Jünger, der diesen Dingen aus seiner "Mauretanier"-Zeit ein wenig näher steht als manche Bürger, die sich schließlich vom Dämon der Mitläufer überrennen ließen, ist sich darüber im Klaren, daß auf den Inseln der Vergangenheit, so verlockend sie auch manchmal erscheinen mögen, kein Aufenthalt mehr möglich ist. Der Geist, der dieses Zeitalter nicht nur erfassen, sondern auch gestalten will, darf sich nicht schonen. Der Autor leistet diese Arbeit. indem er sich preisgibt, aber "mit freisprechender Kraft".

                                                                                                                                  E. D.

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